Etwa drei Millionen Sudetendeutsche wurden nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben. Ein neues Museum in München widmet sich nun diesen Menschen und ihrer Geschichte. Ein persönlicher Rundgang durch die aktuelle Ausstellung.
Beinahe hätte der alte Abwehrreflex eingesetzt. „Nichts Geringeres und nichts Größeres als das Erlebnis namens Heimat“ steht in Leuchtschrift im großen Glasfenster des Foyers. Ein Zitat aus der Rede des tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel vor dem deutschen Bundestag. Ich bin erleichtert, dass das Motto von Havel kommt.
„Das Erlebnis namens Heimat“?
Heimat ist ein vergifteter Begriff. Bei den Großeltern hing ein in Holz geschnitzter Fast-Reim, ungefähr so: Vergiss Deine Heimat nicht, eine zweite find’s du nie. Als Halbwüchsige bin ich augenrollend daran vorbei. Aber Sprache wirkt. Vor allem, wenn so eine Botschaft eine Leerstelle blieb, den Schlagworten keine Erzählungen folgten. Bei uns – so hieß die verlorene Heimat in der Umgangssprache. Es klaffte eine Lücke auf zwischen dort-gut und hier-schlecht, die man Mohn-Kleckselkuchen kauend zu überbrücken versuchte. Man habe, sagt Michael Henker, der Leiter des Planungsstabs, im Keller des Museums ungefähr 50 Mohnmühlen. Ein Alltagsgegenstand wie viele andere auch, die wie Erinnerungsanker wirken: eine geklöppelte Spitzenhaube, ein gebastelter Raddampfer, vielsprachige Gebetsbücher, Landschaftsgemälde. „Wem sagt das heute noch was, wo ist das Sudetenland, was sind Sudetendeutsche, ist das überhaupt in Deutschland, in Europa, oder irgendwo?“ sagt Michael Henker. Jetzt sei das 70 Jahre her, da könnten sie einen unparteiischen Blick auf die Sache werfen. „Wir haben viele tschechische Perspektiven auch drin, da hat’s einen guten Dialog gegeben, der sich dann niederschlägt in der Dreisprachigkeit aller Texte, deutsch, tschechisch und auch englisch.“
Reiche Kulturen im Sudentenland
Monolitisch ragt das Sudetendeutsche Museum am Münchner Isarhochufer auf. Zur waldigen Hangseite hin ist die geschlossene Natursteinfassade aufgebrochen; eine schmale Fensterfront zerklüftet den Baukörper von oben bis unten, wie ein Riss, als öffnete sich das Haus dem Blick und Fragen: Was war das für ein Kulturraum? Und wie kamen die Deutschen, die ihn so stark prägten, dorthin? Die Premysliden, die böhmischen Könige aus dem Haus Premysl, und die Klöster dort hätten Deutsche im 12. Jahrhundert in diese unwirtlichen Gebiete gerufen oder angelockt: mit verschiedenen Privilegien, erklärt Michael Henker.
Die gerufenen Deutschen siedelten sich hufeisenförmig um die böhmische und mährische Tiefebene herum an in den Mittelgebirgsregionen, auch den namensgebenden Sudeten. Reiche Kulturen entstanden, nun ausgelegt in Vitrinen: Schmuck aus Gablonz, Violinen aus Schönbach, Glas und Kristall aus Haida; 14 sogenannte Heimatlandschaften werden gezeigt, unterschiedlich in ihren Bräuchen und der jeweiligen Sprachfärbung.
Und dann steht da ein klassischer Wiener Kaffeehausstuhl. Und die Erklärungsversuche des Vaters zur verwirrenden Historie seiner Heimat werden plötzlich im Bugholz des Thonet-Designs zurechtgebogen: Die Thonetstühle wurden im waldreichen Koritschan produziert – schließlich gehörte das Sudetenland bis 1918 zur österreichisch-ungarischen K.-u.-k.-Monarchie. Vier Zugehörigkeiten hatte der später geborene Vater: tschechoslowakisch, von Nazi-Deutschland annektiert, staatenlos, westdeutsch.
An den Museumswänden wechseln die Farben, vom kaiserlichen Gelb und Schwarz, zum Rotweißblau der Ersten Republik, der Denkmalsturz von Kaiser Franz Josef zum tschechoslowakischen Staatspräsidenten Masaryk wird unblutig mit gemorphten Gesichtern inszeniert. Nationalistische Mobilmachung dann ab Mitte der 1920er-Jahre: Plakate neu gegründeter sudetendeutscher Parteien verherrlichen die deutsche Mutter, werben für den nationalsozialistischen Scharfmacher Henlein. Das austarierte gesellschaftliche Nebeneinander von Tschechen und Deutschen endete endgültig im Nazireich. Rache und Vertreibung der Deutschen folgen 1945/46.
Für Trauer gab es keinen Ort
Das Museum informiert sachlich und ausgewogen; Touchscreens ermöglichen erweiternde Daten. Die familiären Schlagworte waren bitterer: Lager, Typhus, Rausschmiss. An einer Stelle finden sie sich im Museum wieder: Atmosphärisch dicht eine Installation aus persönlichen Gegenständen, die vom Lichtstrahl erfasst und mit historischem Filmmaterial kombiniert werden und zumindest kurze Schlaglichter werfen auf tabuisierte Übergriffe und Zwangsarbeit.
Die drei Millionen vertriebenen Sudetendeutschen wurden als laute und teilweise revanchistische Gruppe wahrgenommen, organisiert in martialisch klingenden Verbänden wie „Bund der Heimatlosen und Entrechteten“. Dass sie wie heutige Flüchtende nicht willkommen waren, in Baracken lebten, Suizid begangen, gehörte nicht einmal zu ihrer eigenen Wahrnehmung als erfolgreiche Wiederaufbauer. Für Trauer gab es keinen Ort, sie brach sich dennoch Bahn: Von nichts vermochte sich der Vater zu trennen, er hortete alles, fischte auch Weggeworfenes wieder aus dem Müll.
Offenbar folgt auch die Ausstellung dem Impuls, auf die Kraft einer anhäufenden Dingwelt zu setzen. Planungsleiter Michael Henker deutet zwischen all den tröstenden Nachkriegsobjekten auf ein Paar rotgefütterte, wärmende Ohrenschützer; sie fanden eine neue Verwendung: seine Tochter Ulrike habe sie später als Schallschutz benutzt, „um die ständigen und lautstarken Erzählungen der Verwandtschaft über die verlorene Heimat nicht mehr anhören zu müssen“.
Ein symptomatisches Bild. Aber die Herkunft und die mit den Traumata unbewusst weitergegebenen diffusen Ängste sitzen auch den tauben Nachkommen in den Knochen, und in den Zellen.
Quelle: BR.de vom 01.11.2020