Museumseröffnung in der Hochstraße:
Erinnerung an Bayerns „vierten Stamm“
„Nichts Geringeres und nichts Größeres als das Erlebnis namens Heimat“ steht in weißer Schrift auf schwarzer Wand hinter Markus Söder. Dieser Ausspruch stammt zwar nicht vom ehemaligen bayerischen Heimatminister, aber Söder dürfte die Worte des früheren tschechischen Präsidenten Václav Havel von Herzen unterzeichnen, die dieser 1997 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag sagte. Söder steht an diesem Montag vor einem mächtigen Bau mit Sandsteinfassade am Isarhochufer, das nun das Sudetendeutsche Museum beherbergt und von Ende Oktober an öffentlich zugänglich ist. Es ist ein weltweit einzigartiges Haus, das die Geschichte, Kultur und das Schicksal der Volksgruppe beleuchtet.
Bei der Eröffnung am Montagvormittag ist deshalb viel von einem „Leuchtturmprojekt“ die Rede. Für Ministerpräsident Söder sei dies ein „besonderer emotionaler Tag und Moment“. Schließlich ist Bayern seit der Vertreibung von etwa drei Millionen Sudetendeutschen, von denen fast die Hälfte nach dem Zweiten Weltkrieg im Freistaat Bayern eine neue Heimat fanden, Schirmherr der Sudetendeutschen, die offiziell neben Altbayern, Franken und Schwaben „vierter Stamm“ Bayerns sind.
Vor fast zwei Jahrzehnten hatte der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber in einer Ansprache erklärt, dass an der Hochstraße in der Münchner Au zusätzlich zum bereits bestehenden Sudetendeutschen Haus ein eigenes großes Museum entstehen solle. Daran erinnert sich Bernd Posselt, der Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe und langjährige Europa-Abgeordnete, noch ziemlich genau. Er sei davon begeistert gewesen, und nun, im Oktober 2020, stellt er fest: „Unser Gedächtnis ist hier in diesem Museum festgehalten, aber es gibt uns auch Orientierung.“
Es ist ein großes Gemeinschaftsprojekt, das in fast zwei Jahrzehnten nicht nur vom Bund und Freistaat gefördert und finanziert wurde – insgesamt hat der Neubau an der Hochstraße etwa 26 Millionen Euro gekostet, zwei Drittel der Summe zahlte der Freistaat, ein Drittel der Bund. Zahlreiche Forscher und nicht zuletzt die Sudetendeutsche Stiftung als Trägerin des Museums suchten Exponate, Schriftstücke und Bildmaterial in jahrelanger Kleinarbeit zusammen. Herausgekommen ist eine ebenso bewegende wie bedrückende Dauerausstellung, die sich in dem eindrucksvollen Gebäudekomplex an der Hangkante zur Isar befindet. Auf fünf Etagen können die künftigen Besucher die Geschichte, Kultur und Wirtschaft der Sudetendeutschen entdecken. Auf jedem Stockwerk bietet das Haus, das das Münchner Architekturbüro pmp architekten entworfen hat, multimediale Einblicke in das Leben der Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer alten Heimat vertrieben worden waren
Ganz oben, im dritten Obergeschoss, nähert sich die Dauerausstellung der Heimat der Sudetendeutschen in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien an. Die Sudetengebiete wurden im 12. und 13. Jahrhundert vor allem von Bauern, Handwerkern, Bergleuten, Kaufleuten und Mönchen aus Bayern, dem Rheinland, aber auch Sachsen und Schlesien besiedelt. „Sie kamen auf Einladung der böhmischen und mährischen Herrscher aus dem Geschlecht der Přemysliden“, heißt es auf einer Erklärtafel der Ausstellung. Es war kein einheitliches Siedlungsgebiet, an dem sich die Menschen niederließen, doch sie prägten die Städte und Landschaften nachhaltig.
So sind im zweiten Stock Produkte aus den verschiedensten Wirtschaftszweigen zu finden. Damenstrümpfe von Kunert etwa, Gablonzer Modeschmuck, Spitze aus dem Erzgebirge und sogar das längste Serienmotorrad der Welt, die „Böhmerland“ aus dem Jahr 1938. In jedem Stockwerk des Gebäudes, das keinerlei rechte Winkel aufweist und den Besucher auf Leitlinien im Zickzack durch die Ausstellung geleitet, sind raumhohe Fenster, die den Blick auf alte Bäume am Auer Mühlbach in Richtung Innenstadt freigeben. Moderne museumspädagogische Konzepte lassen die Geschichte und die Kultur der Sudetendeutschen spielerisch erfahren oder auch ertasten, wie das „Prager Jesulein“, ein interaktiver Schautisch und viele weitere Tastobjekte. In zahlreichen Bildern und Schautafeln entwickelt sich die Geschichte der Volksgruppe, wie auch im ersten Stockwerk über die Entstehung des Nationalitätenkonflikts zu sehen ist, die schließlich in einer millionenfachen Flucht und Vertreibung einen traurigen Tiefpunkt findet.
Als „Kristallisationspunkt“ der sudetendeutschen Geschichte und Kultur bezeichnet der Vorsitzende der Sudetendeutschen Stiftung, Ortfried Kotzian, das neue Museum. Es sei ein Ort, „der über Mit- und Gegeneinander, über Flucht, Vertreibung und Versöhnung berichtet“. Das ist bei der Eröffnungsfeierlichkeit allen beteiligten Politikern wichtig zu betonen: So sei auch die Rolle der Vertriebenen im europäischen Versöhnungsprozess nicht zu unterschätzen, so Söder. Staatsministerin Monika Grütters (CDU) bezeichnet das Sudetendeutsche Museum in München geradezu als „überfällig“. Denn das Wissen über das Schicksal der Menschen drohe in Vergessenheit zu geraten.
Für das Publikum wird das Museum erstmals am 30. Oktober eröffnet, etwa drei Jahre später als ursprünglich geplant. Besucher werden überrascht sein, wer alles mit Sudetendeutschen verbunden werden kann: vom Autobauer Ferdinand Porsche über Kabarettistin Luise Kinseher bis hin zu Kinderbuchautor Otfried Preußler. Sogar der Gartenzwerg ist eine sudetendeutsche Erfindung.
Bericht: Süddeutsche Zeitung 12. Oktober 2020, 17:42 Uhr
Das Sudetendeutsche Haus in München befindet sich in der Hochstraße 8 im Stadtteil Au, unweit des Kulturzentrums Gasteig.